Das verurteilende Denken, die Ursache von Leiden und dadurch von Gewalt - und die Alternative als Weg zur Lebensfreude hin

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Verurteilendes Denken - die Ursache von
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Überblick über den Inhalt:

In diesem Artikel stelle ich den Zusam­menhang zwischen der in unserer Gesell­schaft noch vorherr­schenden Denkweise, die ich "verurteilendes Denk­system" nenne, und dem Leiden der Menschen dar, die in diesem Denksystem gefangen sind.

Ich werde zeigen warum dieses Denk­system zwangsläufig zu kleinem oder großem Leiden führt und dass es auf dem (meist unbewussten) Glauben an "Schuld", bzw. "Sünde" basiert, ja diesen Glauben erfordert um überhaupt bestehen zu können.

Anschließend stelle ich die alternative Art, die Welt zu sehen dar: das "Denk­system der Gewaltfreiheit", das wohl schon seit über 2000 Jahren immer wie­der von den Menschen entdeckt und be­schrieben wurde, die heute als die großen Weisen der Menschheit angesehen werden.

Ich werde zeige, wie dieses andere Denk­system Leid verhindert und wie auch Urteile allge­mein und sogar "posi­tive" Werturteile uns unwei­gerlich aus diesem "Denksystem der Gewaltfrei­heit" heraus, in das "verurteilende Denksystem" führen können, in dem leiden unausweichlich ist.

Schließlich zeige ich woran man erken­nen kann, wenn man sich wieder im "verurtei­lenden Denksys­tem" ver­fangen hat und wie man sich in das "Denk­system der Gewaltfreiheit" befrei­en kann. Dabei stelle ich meinen eigenen Entwicklungsweg dar und ich zeige einen effektiven Weg für eine solche Ent­wicklung.


Liebe Leserin / lieber Leser, ich schreibe diesen Artikel, um meine Einsichten über die Ursachen von Leiden und Gewalt (auch in seinen subtilen Formen) mit Dir zu teilen. Diese Einsichten habe ich in den letzten Jahren und besonders durch eine Erfahrung gewonnen, die ich vor ein paar Wochen hatte - und ich möchte das Geschenk dieser Erfahrung feiern.

In dieser Erfahrung, habe ich zum ersten Mal bewusst eine "neue Welt" erlebt und ich möchte sie als "leid- und gewalt­freie Welt" oder als "Denk­system der Gewalt­freiheit" bezeich­nen. Ich habe erlebt wie es ist, in dieser "Welt" bewusst und auch in schmerz­haften Situa­tionen verankert zu sein.

Das heißt übrigens nicht, dass ich nun "fertig", oder gar "perfekt" bin - ich bin nach wie vor ein Lernender des Lebens, genau wie Du und wie jeder andere Mensch - mit dem kleinen Vorteil viel­leicht, dass ich durch diese Erfahrung klarer sehen kann, dass ich weder "besser" noch "schlechter" bin als Du; dass wir beide im Grunde gleich sind - genau wie jeder andere Mensch auf dieser Erde. Und selbst die Erfahrung selbst ist für mich kein "Verdienst", sondern ein Geschenk des Lebens, das mir die Lebensreise wahrscheinlich etwas erleichtern wird.

Zu diesem Geschenk hat mir vor allem die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg (GFK) und Robert Gonzales mit seiner GFK-Transforma­tionspraxis verholfen. Und ich bin besonders dankbar dafür, dass ich Roberts Transformationspraxis in dem "Euro-LIFE 2010"- Training vertiefen durfte, denn dabei habe ich das Geschenk schließlich erhalten :-)

Nach dieser Erfahrung sehe ich klarer denn je, dass diese Erkenntnisse nicht neu sind und ich glaube, dass sie allen Wegen zum Glück, die nach "innen" führen, zugrunde liegen. Daher wird Dir vielleicht einiges bekannt vorkommen.

Gleichzeitig hoffe ich, dass die Art der Dar­stellung und besonders der spezielle Weg, den ich gegangen bin, Dich inspiriert und Dich auf Deiner Reise des Lebens unterstützt, egal welcher Religion oder Philosophie Du folgst.

Ich möchte gleich am Anfang auf eine Falle hinweisen, in die ich selbst immer wieder gefallen bin und in die ich wohl auch weiterhin immer wieder mal fallen werde. Und aus meiner Erfahrung in meiner Arbeit macht diese Falle wohl jedem Menschen, der den Weg zur Befreiung vom Leiden gehen will, besonders zu Beginn immer wieder zu schaffen: Wenn wir Menschen einen Weg sehen, den wir gehen möchten, verurteilen wir uns fast zwangsläufig immer wieder selbst dafür, wenn wir von diesem Weg abweichen.

Diese Selbstverurteilung führt zu neuem Leiden und raubt uns Energie. Deshalb eine Bitte: Wenn Du den Weg aus dem Leiden heraus fin­den möchtest, behandle Dich selbst auch dann liebevoll und mitfühlend, wenn Du "Feh­ler" machst und Dich z.B. in verurteilendem Denken wiederfindest - behandle Dich bitte so liebevoll und mitfüh­lend wie Du ein kleines Kind behandeln würdest, das Du von Herzen liebst und mit dem Du mitfühlst und für das Du das Beste wünschst.

Auf diese Weise wirst Du Dir Deine Irrtümern leichter vergeben und dadurch besser daraus lernen können. Die Erkenntnis, dass verurteilendes Denken (sowohl bei uns selbst, als auch bei anderen) einfach nur ein Ausdruck von Schmerz ist, der liebevoll und mitfüh­lend umarmt und durch Trauern aufgelöst werden möchte, wird Dich dabei unterstützen.

Verurteilendes Denken kann als ein Teil eines "Denksystems", oder "Paradig­mas", d.h. einer "Denkweise" oder "Art der Weltanschauung" gesehen werden; als Teil einer Denkweise, die Angst hervorruft und zu Leiden führt.

 

Definition von "verurteilendem Denken" und von "Leiden"

Zur Klarheit und Verständlichkeit möchte ich zuerst definieren, was ich mit den Begriffen "verurteilendes Denken" und "Leiden" meine:

- Mit "verurteilendem Denken" meine ich vor allem das ablehnende, abwer­tende Denken, das in uns unangenehme emotionale Reaktionen hervorruft. Wie angedeutet sehe ich dieses Denken als Teil des "verurteilenden Denksystems" (in der GFK "Wolfsdenken" genannt).

- Mit "Leiden" meine ich das vermeidbare Unangenehme, im Gegensatz zu Schmerz und Trauer, die schon wegen der Vergänglichkeit des Lebens nicht vermeidbar sind.

Ich neige zu der Ansicht, dass Schmerz entwe­der durch verurteilendes Denken (allgemein: Widerstand gegen den Schmerz) zu Leiden wird und wir dadurch "Schmerzen leiden", oder aber durch Liebe und Mitgefühl sich in Trauern (als deren Ausdruck) auflösen kann - ersteres ist eben Leiden und kostet Energie, letzteres bringt Energie und führt in die eigene Kraft.

 

Der Zusammenhang zwischen dem verurteilendem Denken
und unangenehmen Gefühlen und Körperempfindungen 

  Damit Du meinen Ausführungen nicht einfach nur glauben musst, sondern die Zusammenhänge selbst prüfen kannst, lade ich Dich zu einem kleinen Experiment ein. In diesem Experiment versuche ich die Wirkung erfahrbar zu machen, die "negative" Verurteilungen auf Menschen ha­ben (sei bitte achtsam und brich das Ex­periment ab, wenn es zu unangenehm werden sollte ein paarmal tief Durch­atmen kann in einem solchen Fall helfen):

Damit Du die Wirkung leichter spüren kannst, nimm Dir zuerst ein wenig Zeit, Dich zu entspannen und innerlich zur Ruhe zu kommen. Dabei unterstützt es Dich vielleicht, ein paar Mal tief durchzuatmen und Dich bewusst zu entspannen...

Dann such Dir einen der folgenden Gedanken aus - am besten sprichst Du ihn laut aus - und spüre anschließend in Deinen Körper hinein, ob Du Empfin­dungen wie Anspannung, Druck, Taub­heit, o.ä. spüren kannst. Such Dir einen Gedanken aus, bei dem Du schon beim Lesen eine Reaktion spürst:

"Ich bin schlecht"; "Ich bin zu ego­istisch"; "Ich bin zu gierig"; "Ich bin schuld / Ich mach alles falsch"; "Ich bin zu geizig"; "Ich bin rücksichtslos"; "Ich bin zu faul"; "Ich bin dumm / nicht intelligent"; "Ich bin zu hässlich / nicht schön"; "Ich bin unfähig"; "Ich bin hilflos"; "Ich bin das Opfer".

  Wenn Du bei keinem von diesen Gedan­ken eine Reaktion spürst, versuche Folgendes: Erinnere Dich an ein Situation in der Du Dich geärgert oder sonst wie unwohl gefühlt hast und schau, was für Urteile Du anderen oder Dir selbst gegenüber in Bezug auf diese Situation hast. Du kannst das Experiment dann mit einem dieser Urteil machen. Wenn es ein Urteil über einen anderen ist, dreh es einfach um und sage: "Ich bin ...".  

Du wirst bei diesem Experiment eine unangenehme Reak­tion in Deinem Körper spüren, wenn Du diese Übung mit einer Selbstverurteilung machst, von der "etwas in Dir" / "ein Teil von Dir" glaubt, dass sie stimmt (meist nicht bewusst).

Schließlich kannst Du dieser unange­nehmen Reaktion eine Bedeutung geben, indem Du sie mit Gefühls­worten beschreibst.

Wenn das Experiment erfolgreich war, hast Du erfahren wie verurtei­lende Gedanken mit unangenehmem Fühlen (oder nicht-Fühlen wie Taubheit) und unange­nehmen Körper­empfindungen zusammen­hängen, ja diese verursachen. Und du hast auch einen Hinweis darauf bekommen, wo sehr wahrscheinlich eine Grundüberzeugung / ein Glaubenssatz von Dir verborgen liegt - ein Schatz, der Dich zu mehr Freiheit führen kann :-) 

Die Ursache von Sucht: Ausweichen vor dem Unangenehmen

Dies ist ein Zusammenhang, der für alle Menschen gleichermaßen gilt, auch wenn viele gelernt haben "das Unange­nehme" nicht zu spüren, d.h. es zu ver­drängen, es zu betäuben oder ihm anders auszuweichen.

Alle Süchte und Abhängigkeiten sind meiner Meinung nach in erster Linie der Versuch, den unange­nehmen Gefühlen (wie Angst, Ärger, Resignation, ...) und deren Körperemp­findungen auszuwei­chen, und Abhängigkeiten können in vielen Formen auftreten. So gesehen wird klar: Im Grunde kann wirklich alles, was angenehme Gefühle in uns auslöst, abhängig / süchtig  machen, wenn es dazu genutzt wird, Unangenehmem auszuweichen - sogar Arbeiten, Sport und anderen helfen!

Wenn das Ausweichen vor dem Unangenehmen nun die Ursache für die Süchte und Abhängigkeiten ist, dann kann die Lösung nicht im "verurtei­lenden Denksystem" gefunden werden (also z.B. durch Selbstver­ur­teilung), denn das würde das Unangenehme nur verstärken, weil es ja gerade durch verurteilendes Denken verursacht wird. Leider tun aber viele Menschen, die in Abhängigkeiten feststecken, genau das: sie verurteilen sich selbst dafür, z.B. "zu" schwach", "zu undiszipliniert", oder "inkonsequent" zu sein  - und dadurch erschweren sie es sich selbst erheblich, wieder frei zu werden...

 

Die Auswirkungen, die verurteilendes Denken anderen gegenüber, auf uns hat

Wie schon angedeutet, lösen die verurtei­len­den Gedanken in Form von "Ich bin ..." oder "Du bist ..." zwar meist am deutlichsten Leiden aus, weil sie direkt gegen den betreffenden Menschen gerichtet sind. Allerdings sind sie nur die Spitze des Eisbergs des "verurteilenden Denksystems". Verurtei­lung­en / Bewer­tungen von Hand­lungen oder Unter­lassungen mögen sich nicht so deutlich auf uns auswirken, aber zum einen können sie leicht unsere un­bewussten Selbstverur­teilungen ansprechen, bzw. lösen diese aus und zum anderen ziehen sie uns in das "verurteilende Denksystem" hinein; sie "gewöhnen" uns sozusagen an Verur­tei­lungen und stützen den Glauben an ihren vermeintlichen Wert.

Du kannst die Auswirkungen gut spüren, die verurteilenden Ge­danken gegenüber anderen auf Dich haben. Buddha soll gesagt haben: "Groll mit sich herumtragen ist wie das Greifen nach einem glühenden Stück Kohle in der Absicht, es nach jemandem zu werfen. Man verbrennt sich nur selbst dabei.", und ich glaube, Du kannst auch diesen Effekt mit folgendem Experiment gut spüren:
Erinnere Dich an eine Situation in der Du Dich über jemanden geärgert hast - und spüre in Deinen Körper wie es sich jetzt im Moment anfühlt...

Obwohl wir uns oft zumindest nicht gleich dessen bewusst sind, ist Ärger immer mit einem Urteil darüber ver­bunden, dass etwas "falsch" ist und anders sein "sollte" - Ärger kann also als eine Form der Angst, vor dem was ist / des Widerstands, gegen das was ist, ver­standen werden und ist nur innerhalb des "verurteilenden Denksystems" möglich.

Meiner Meinung nach leiden wir aus zwei Gründen unter den Verurteilungen anderer:
1.: Wie das Experiment gezeigt hat, leiden wir zuallererst selbst darunter (wenn auch oft unbemerkt), wenn wir andere verurteilen. Abgesehen von der kurz­fristigen Erleichterung, die wir erleben können, wenn wir es schaffen, die "Schuld" anderen zu geben - der Grund hierfür liegt wohl vor allem darin, dass sich dann unser eigenes (unbewusstes) Schuldgefühl etwas entspannt -, halten uns auch die Verurteilungen anderer davon ab, Vergangenes loszulassen / Frieden mit Vergangenem zu schließen - wir ärgern uns (und wir tun das tatsächlich ganz alleine ;-).

2.: Zudem muss ich immer auch befürchten, selbst verurteilt zu werden, wenn ich andere verurteile. Ich lebe zwangsläufig unter dieser latenten Angst, vor Verurteilung und muss mich davor schützen (z.B. dadurch, dass ich immer wieder beweise, dass andere "schlechter" sind / dass ich "besser" bin). Und wenn andere mich tatsächlich verurteilen, wird es unangenehm für mich: die latent vorhandene Angst wird wach.

Selbst die Bibel spricht diesen Aspekt an: "Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet."...

Diese zwei Zusammenhänge führen zu dem kleinen und großen Leiden, das in dem "verurteilenden Denksystem" unausweichlich ist und das letztendlich für uns selbst das Leben im wahrsten Sinne des Wortes zur Hölle machen kann... Das ist es wohl auch was Gandhi meinte, als er sagte, er selbst sei sein größter Feind... In "Ein Kurs in Wundern" steht: "Es gibt keine Hölle. Die Hölle ist nur das, was das Ego [das verurteilende Denken] aus der Gegenwart gemacht hat."...

Ich möchte noch anmerken, dass selbst "posi­tive" Urteile wie Kompli­mente oder Lob können uns, im Gegen­satz zu wertfreiem Ausdruck von Aner­kennung und Dankbarkeit, auf unmerk­liche Weise in dem "ver­urteilende Denksystem" verstrickt halten - ich werde weiter unten nochmals näher darauf eingehen...

 

Die Auswirkungen von selbst-verurteilendem Denken

Der Kern unseres Leidens sind allerdings unsere (meist unbewussten) Selbstverur­teilungen und sie sind sogar verant­wortlich dafür, dass Verurteilungen anderer für uns schmerzhaft sind. Das wird offen­sichtlich, wenn uns jemand auf eine Weise verurteilt, die mit keiner Selbstverurteilung korrespondiert.

Wenn mich z.B. jemand als "Mörder" be­schimpft, berührt mich das in keiner Weise, weil es "zu weit hergeholt" ist - eben zu weit weg von meinen eigenen (immer noch teilweise unbewussten) Selbstverur­teilungen. Wenn hingegen jemand zu mir sagt: "Du baust nur Mist!", dann kann das immer noch schmerzhaft für mich sein, weil es ziemlich genau das ist, was ich in meiner Kindheit so oft hörte und was ich mir schließlich dann auch selbst gesagt hatte.

Bei Selbstverurteilungen haben wir vor allem drei Möglichkeiten und wir verwenden wohl meistens eine Mischung aus allen dreien:
1. Wir glauben ihnen und fühlen uns hilflos den Selbsturteilen ausgeliefert. Das kann uns direkt in die Depression führen.

2. Wir rebellieren dagegen, d.h. wir versuchen zu "beweisen", dass wir nicht "so" sind. Das führt zu Aggression - und dann meist oft zu Gewalt .

3. Wir verdrängen die Selbstverur­tei­lungen ins Unterbewusste.

Wenn wir unsere selbst- verurteilenden Gedan­ken verdrängen, sind sie übrigens nicht aufge­löst, sondern sie wirken sich machtvoller, weil unbewusst und deshalb unbemerkt auf unser Leben aus. Die west­liche Psychologie hat in den letzten hundert Jahren den psychologischen Abwehr­mecha­nismus der Projektion entdeckt, durch den sich unsere unbewussten Anteile auswir­ken: Hinter meiner Verurteilung anderer steckt in Wahrheit die Ablehnung / die Verurteilung von Teile / Impulsen von uns selbst.

Neben vielen anderen Ansätzen basiert z.B. Byron Katies "The Work" ge­nau auf diesem Zusammen­hang der Projektion.

 

Die Grundbedingung für das "verurteilenden Denksystem"

Wenn man den Abwehrmechanismus der Pro­jektion genau betrachtet, kann man sehen, dass Selbstverurteilungen gerade­zu die Voraus­setzung für das "verurtei­lende Denksystem sind. "Ein Kurs in Wundern" sagt: "... die Idee der Schuld bringt einen Glauben an die Verurtei­lung des einen durch den anderen und pro­jiziert Trennung statt Einheit.". Demnach (und "Ein Kurs in Wundern" spricht an vielen Stellen davon) kann das "verurteilende Denksystem" ohne den Glauben an "Schuld" und "Sünde", die sich in Selbstverurteilungen ausdrücken, nicht existieren - und dieser Glaube an "Schuld" und "Sünde" kann durch­aus sehr subtil sein und ist oft gänzlich unterbewusst.

Jedoch: hast Du jemals weniger getan als das Beste was Du in dem Moment eben tun konntest? Ich habe mir selbst diese Frage oft gestellt und gesehen, das es bei mir der Fall war, auch wenn ich im Nach­hinein vieles gerne anders gemacht hätte - zu dem Zeitpunkt hatte ich entweder das Wissen nicht, oder nicht genügend Ressourcen. Und ich habe mehr und mehr gesehen, dass das allgemein gilt:     
Wir Menschen tun zu jeder Zeit das Beste, was wir in Anbetracht unseres Zustandes, unseres Wissens und unserer Ressourcen, in dem Moment eben tun können.

Durch die Beschäftigung mit der Gewaltfreien Kommunikation habe ich auch zunehmend erkannt, wie stark wir Menschen von unseren unbewussten Glaubens­sätzen und Überzeu­gungen gesteuert werden (ohne das es über­haupt möglich ist, es zu merken!). Und diese Glaubenssätze und Überzeugungen sind im Grunde Interpretationen von meist schmerz­haften Lebenserfahrungen - oft auch noch von anderen übernommen.

Allein diese Tatsache, dass wir von Interpre­tationen gesteuert werden, deren wir uns gar nicht bewusst sind, zeigt die tatsächliche "Un­freiheit des Willens" und lässt das Konzept der "Schuld" und der "Sünde" sinnlos werden - sogar dann, wenn wir andere verletzen. Und Jesus Worte am Kreuz, sprechen meiner Meinung nach genau diesen Punkt an: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!"... 

Der Glaube an Schuld bringt übrigens auch die, bei genauer Betrachtung selt­same Über­zeugung mit sich, dass Angriff oder Bestrafung gerechtfertigt seien und Gutes bewirken könnten. Weiter unten werde ich darauf zurückkommen und zeigen, dass dies ebenfalls ein Irrtum ist.

 
Die Alternative: das "Denksystem der Gewaltfreiheit"

Was genau ist nun die Alternative? Was ist das "Denksystem der Gewaltfreiheit"? Dieses Denk­system (in der GFK "GFK-Bewusstsein" genant) ist ein "Paradigma", in dem ich liebevoll und mitfühlend mit mir und anderen Menschen umgehe und ich glaube es ist das was z.B. im Buddhismus das Ziel jeder Meditation ist und mit "in der Natur des Geistes weilen", gemeint ist. Im Christentum wird es wohl unter anderem als "im Heiligen Geist ruhen" bezeichnet und es ist wohl das was Ken Wilber (myilp.com) mit "Schaulogik" oder "Bewusstsein zweiten Ranges" bezeichnet...

Wenn ich in diesem, so anderen "Denk­system der Gewaltfreiheit" bin, sehe ich in mir und den anderen einfach nur den Menschen, der das Beste tut, was er gerade tun kann - auch wenn die Auswirkungen des Tuns schmerzhaft sein mögen. Das hindert mich übrigens nicht daran, notfalls auch Gewalt einzusetzen, um zu schützen...

Bisher hab ich das alles nur theoretisch ge­sehen und trotzdem hatte ich intuitiv gespürt: So kann Frieden herrschen! So möchte ich leben! Nachdem ich nun erfahren habe wie es ist, nicht nur dann, wenn die Umstände angenehm sind, für ein paar Minuten, sondern auch in herausfordernden / schmerzhaften Situa­tionen, für länger Zeit und bewusst vertrauens­voll in diesem "Paradigma der Gewaltfreiheit" zu ruhen, fällt es mir schwer die Worte dafür zu finden. Es ist kein "großartiger" Zustand. Wenn ich dort verankert bin, spüre ich Liebe und Mitgefühl für mich und die anderen (Mitgefühl übrigens im Gegensatz zu Mitleid, welchem ein Urteil zugrunde liegt).

In dieser "Weltsicht" habe ich keine Urteile wie gut / schlecht, richtig / falsch. Ich nutze diese Worte nicht einmal, weil ich sehe, wie leicht sie uns meistens in das "verurteilende Denksystem" bringen.

In diesem "Denksystem" benötige ich Urteile überhaupt nicht und ich brauche auch nicht die Idee der Schuld, um für mich oder andere zu sorgen, bzw. um zu leben und zu han­deln. Ich sehe Menschen, die handeln oder nicht-handeln und ich kann aufrichtig ausdrücken, wie ich die Situationen erlebe, und aktiv Einfluss nehmen, ohne andere zu verurteilen.

In diesem "Paradigma der Gewaltfrei­heit", bin ich entspannt und meist voller Tatkraft, und ich spüre auch in der Trauer meine Lebensfreude - eine freud­volle Wärme zwischen Solarplexus und meinem Herzen.

In dieser "Weltanschauung" kann ich auf Handlungen von von mir oder anderen, die schmerzhaft für mich oder andere sind, mitfühlend und mit meiner ganzen Kraft reagieren, vor allem wohl, weil ich für und nicht gegen etwas handle.

In diesem "Paradigma der Gewaltfrei­heit" kann ich meine Feinde lieben, weil ich keine Feinde habe! Ich sehe in denen, die ich in der Vergangenheit für Feinde gehalten habe, einfach nur Menschen, die vielleicht verzweifelt sind, aber eben immer das Beste tun, was sie in diesem Moment, mit dem Wissen und den Ressourcen, die sie zur Verfügung haben, tun können. Und so sehe ich auch mich selbst und meine Handlungen.

Das hindert mich nicht daran aus Fehlern zu lernen - im Gegenteil, es fällt mir so viel leichter, zu lernen und mein Ver­halten zu ändern, weil ich mir selbst liebevoll und mitfühlend begegne und dadurch keine Angst habe und keinen Widerstand, und so auch nicht meine Abwehrmechanismen auslöse. Und wenn ich anderen auf diese Art begegne, unterstütze ich auch sie dabei, sich selbst liebevoll anzunehmen und aus Vergangenem zu lernen, ohne ihre Abwehr­mechanismen (=Angst / Widerstand) auszulösen....

 

Das "verurteilende Denksystem" und Wiedergutmachung

Bei genauer Betrachtung wird auch klar, dass Verurteilungen für ein Funktio­nieren in unserer Gesell­schaft gar nicht (mehr) notwendig sind. Selbst wenn jemand einem anderen Schaden zugefügt oder ihn verletzt hat, genügt es voll­kommen, die Tat und die Auswirkung zu betrachten, um dann schützend einzugreifen (was durchaus auch bedeuten kann, den "Täter" einzu­sperren) und dann Raum für Mitfühlen und Trauern zu schaffen und schließlich Wiedergut­machung zu ermöglichen.

Der Weg auf Verurteilungen zu verzich­ten, ist sogar viel wirkungsvoller, weil die Schuld­gefühle, die durch Verurtei­lungen i.d.R. hervor­gerufen werden, den Betreffenden schwächen und ihm Energie zur Wiedergut­machung rauben, und das ist  kontraproduktiv.

Wie schon gesagt, sind Schuld­gefühle so schmerzhaft, dass sie in der Regel eben die psychologischen Abwehr­mecha­nis­men aus­lösen, vor allem das Rationa­lisieren, das Ver­drängen ins Unter­be­wusste und die Projektion auf andere. Letzte­res ist häufig auch bei schweren Straf­taten anzutreffen: Der "Täter" gibt dem "Opfer" die (Mit-)Schuld.

Im Grunde hat ein "Täter" im "verurtei­lenden Denksystem" genau zwei Mög­lichkeiten: Entweder er klagt sich selbst an und fühlt sich schuldig - was wie obiges Experiment zeigt, zu Leiden führt (Resignation / Depression) und Energie raubt -, oder er projiziert die Schuld auf andere: auf das Opfer, die Eltern oder die Gesellschaft und spürt Ärger oder Wut, oder aber eine Mischung aus Selbst­verurteilung und der Verurteilung anderer. Beide Wege verhin­dern, dass der "Täter" in seine Kraft kommt und wirklich Verantwortung für seine Tat über­nehmen, d.h. mit dem "Opfer" mitfühlen und trauern kann. Erst aus dem Mitfühlen entsteht ganz natürlich der  Wunsch, Wiedergut­machung zu leistet und daraus zu lernen / sein Verhalten zu ändern.

Meiner Meinung wird es durch verurteilendes Denken geradezu verhin­dert, dass Menschen, die etwas getan haben, das schmerzhaft für andere war, mit diesen mitfühlen und trauern können. Das übrigens wohl der Haupt­grund dafür, dass die bestrafenden Justiz (auf der noch die meisten Justizsysteme der Welt aufge­baut sind) mehr schadet als nützt (was viele Untersuchungen über den Nutzen von Gefäng­nisstrafen inzwischen auch bestätigt haben).

Ansätze der "Stärkenden Justiz" (Restorative Justice), die sich in Deutschland besonders im Jugend­strafrecht (vor allem der Täter-Opfer-Ausgleich) mehr und mehr bewährt haben, zeigen hilfreichere alternative Wege, obwohl leider in den Köpfen der "Anwender" oft noch moralische Urteile und dadurch ein "Ändern wollen" / "Erziehen wollen" mitschwingt.

 

Auswirkungen des "verurteilenden Denksystems" auf "Opfer" von Handlungen

Bei genauer Betrachtung sind Verurtei­lungen sogar für die "Opfer" schädlich, weil sie davon ablenken, den Schmerz wirklich zu spüren und in zu betrauern, d.h. ihn mitfühlend und verständnisvoll zu umarmen. Nur so könnte das schmerzhafte Ereignis allerdings aufgearbeitet werden und das "Opfer" schließlich in Frieden damit kommen; das Opfer könnte das Erlebte "loslassen" - durch die Ablenkung und so lange diese besteht, wird das verhindert.

"Rache" mag zwar kurzfristig erleich­tern (vor allem wohl dadurch, dass die eigenen unbewussten Schuldgefühle auf andere projiziert werden können), und das Ablenken von allzu großem Schmerz mag nach extrem schmerzhaften Erfahrungen anfangs sogar wichtig sein (auch wenn es auch hier inzwischen hilfreichere Wege gibt), aber wenn das "Opfer" an den Verurteilungen festhält, bedeutet das langfristiges Leiden, weil es das Vergangene nicht aufarbeiten und somit nicht loslassen und damit in Frieden kommen kann - auch dieses Leiden ist in unserer Gesellschaft leider noch normal. Die Worte aus der Bibel: "Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet", die in der Bibel stehen, deutet für mich genau auf diesen Aspekt hin.
Ich glaube, dass jede Form der Rache zwangs­läufig das Gewissen dessen belastet, der sich rächt, weil alles was wir anderen an­tun, immer auch auf uns selbst zurückfällt. Selbst jemand, der z.B. in Notwehr einen anderen Menschen tötet, muss trauern über den Schmerz, den er z.B. bei dessen Hinter­bliebenen ausgelöst hat, damit er wieder Frieden finden kann - um wie viel mehr gilt das dann für Rache?

Im Zusammenhang mit Trauma allgemein wage ich zu behaupten, dass das "verur­tei­lende Denksystem" sogar die Grund­lage ist, auf der posttraumatische Belas­tungsstörungen erst ermöglicht werden und dass diese im "Denksystem der Gewalt­freiheit" nicht möglich sind Ich glaube nicht, dass z.B. Jesus posttraumatisch Belastungsstörungen entwickeln hätte können.

Es wäre ein interessantes Forschungsvorhaben, die Ergeb­nisse der Resilienzforschung auf diesen Aspekt hin zu untersuchen (Resilienz ist die Fähigkeit, mit "normalerweise" traumatisierenden Erfahrungen umzugehen und sie zu bewältigen).

Ich möchte hier nochmals betonen, das es nicht bedeutet, "alles mit sich machen zu lassen", wenn man auf Urteile wie gut / schlecht, richtig / falsch verzichtet. Wie auch die Beispiele von den großen Weisen der Menschheit von Buddha und Jesus, über Gandhi bis z.B. zum Dalai Lama und viele anderen mehr zeigen, sind wir viel wacher und acht­samer dafür, was um uns herum passiert, wenn wir in dem "Paradigma der Gewaltfreiheit" ruhen, und wir können dadurch - wenn notwendig - früher und mit mehr Kraft Einfluss nehmen - und natürlich haben wir in dieser Weltsicht keine Schwierigkeiten, die Dinge, die wir nicht ändern können, anzunehmen (und wir haben die Weisheit diese zu unterscheiden von denen, die wir ändern können :-).

Im "Paradigma der Gewaltfreiheit" sehen wir im "Täter" nur den leidenden "Bru­der" / die lei­dende "Schwester", welche/r nicht verschie­den ist von uns, und da­durch können wir ihm / ihr liebevoll und mitfühlend begeg­nen. Dass da­durch auch die Gefahr geringer ist, dass seine / ihre Abwehr­mecha­nismen (darunter auch den des Angriffs) ausge­löst, bzw. verstärken werden, habe ich bereits gezeigt. Im "Paradigma der Gewaltfreiheit" haben wir also bessere Chancen den "Täter" zu "erreichen" bzw. Ein­fluss zu nehmen, d.h. wir haben mehr Macht...

 

Das "verurteilende Denksystem" und meine persönliche Erfahrung damit

So lange lösen die entsprechenden Sätze unsere Abwehrmechanismen aus und wir projizieren unsere vermeintliche Schuld auf andere. Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass kein Mensch eigene Projektionen völlig ausschließen kann. Deshalb ist es ein effektiver Weg in unsere Urteilen über andere, eigene Anteile zu suchen und diese zu transformieren - und wenn dieser Weg mitfühlend gegangen wird, führt er zu Selbsterkenntnis und damit zu persönlicher Entwicklung und zunehmender Freiheit.

Meine jüngste Entdeckung einer Selbstver­urteilung von mir hat die Form des Glaubenssatzes: "Ich mache immer alles falsch!". Und erst seit relativ kurzer Zeit bin ich mir bewusst geworden, dass ich mir diesen Satz in meiner Kindheit und Jugend oft selbst gesagt hatte. Inzwischen kann ich sehen, wie dieser Glaubenssatz sich bis heute in meinen Handlungen ausgewirkt hat; er hat heute noch die Kraft, meine Abwehr­mechanismen auszulösen, und er hat mich mein ganzes Leben lang immer wieder dazu getrieben, "es wieder gutzu­machen". Dieses "getrieben Sein" lebte in mir als fast ständiger Druck und "auf der Hut Sein" und es hat mich immer wieder zu Hand­lungen getrieben, die Schmerz in an­deren und / oder in mir ausgelöst haben.

Wie gesagt, bin ich schon seit einigen Jahren davon überzeugt, dass jeder Men­sch zu jeder Zeit das Beste tut, was er, in Anbetracht seines Wissens, seiner Be­wusstheit und der Ressourcen, die er zur Verfügung hat, tun kann. Diese Überzeu­gung hat mir zunehmend gehol­fen, an­dere weniger zu verurteilen. Gleich­zeitig ist es für mich Im Nach­hinein betrachtet überraschend, dass ich sie nicht auch auf mein eigenes Tun ange­wandt habe. Ich habe mich noch bis vor wenigen Monaten immer wieder für unerwar­tete Folgen meines Tuns verur­teilt, meistens sogar, ohne dass ich es gemerkt hatte.

Seit ich im zuneh­men mitfühlend mit mir selbst umgehe, wenn ich einem Irrtum unterlegen bin / einen "Fehler" begangen habe (das Wissen um meine gute Absicht erleichtert mir das), kann ich auch zunehmend mein Herz für den kleinen und großen Schmerz öffnen, der durch meine Irrtümer bei anderen ausgelöst wird. Und ich kann dadurch in diesen Fällen mit ganzem Herzen mitfühlen und trauern...

In dem "verurteilendem Denksystem" habe ich Vergangenes analysieren und Möglichkeiten zeigen wollen, wie sich alle Beteiligten anders verhalten hätten können, damit die schmerzhaften Situationen hätten vermieden werden können. So wertvoll es sein mag, auch durch Analysieren aus Vergangenem zu lernen, so war dies doch zum Teil der subtile Versuch, die "Schuld" auf andere zu projizieren und sie dadurch loszuwerden. Ich konnte mir sagen: Wenn das passiert wäre / der oder die sich so verhalten hätte, wäre es anders gelaufen. Ich konnte also ein wenig von meiner eigenen vermeintlichen "Schuld" auf andere projizieren, wenn ich solche "Fehler" fand - und ich war mir natürlich dessen nicht bewusst...

Mir hat also die Auflösung des Glaubens an die Schuld geholfen, von dem Leid verursachende "verurteilende Paradig­ma" loszulassen und wirklich Verantwor­tung für meine Handlungen zu überneh­men. Früher hab ich viel Energie dafür gebraucht, entweder zu versuchen die (Mit-)Schuld bei anderen zu finden, oder mich selbst zu verurteilen, oder beides zugleich - und dadurch war wertvolle Lebens­energie gebunden und ich war abgelenkt von dem worum es wirklich geht, nämlich mitzufühlen und zu trauern um die Folgen meines Tuns oder Nicht-Tuns und daraus zu lernen und ggf. Wiedergut­machung zu leisten... 

 

Die Auswirkungen moralischer Urteile über Handlungen

Auch moralische Urteile über Hand­lungen allgemein, wie richtig/falsch, gut/ schlecht können, genau wie Zustands­be­schreibungen wie schön/hässlich, dick/ dünn, ..., Leiden fördern, und sie stützen das "verurteilenden Paradig­ma". Das Leben ist wohl niemals so einfach, dass wir Handlungen eindeutig als "richtig" beurteilen können, so wie Ergebnisse in der Mathematik. Hand­lungen haben durch die allseitige Verne­tzung und Abhängigkeit alles Existieren­den so vielschichtige Auswirkung­en, dass wir bestenfalls das Offensichtlichste sehen können - somit erscheint es als eine Anmaßung des "Ego", zu glauben, wir könnten Handlungen wirklich beurteilen.  

Wie bereits gesagt, ist es auch ganz unwichtig, ob wir eine Handlung als richtig oder falsch bewer­ten. Es genügt vollkommen, dass wir uns die Folgen von Hand­lungen oder Unterlassungen ansehen und ggf. berichtigen und daraus lernen. Selbst vermeintlich "richtige" Handlungen können für andere oder für uns selbst schmerzhafte Folgen haben, die liebe­voll und mitfühlend betrauert werden müssen, um wieder Frieden mit der Vergangenheit zu finden. Wie bereits gesagt: Selbst jemand der in Notwehr einen anderen Menschen tötet, muss trauern, damit er wieder Frieden finden kann...

Wir Menschen brauchen wohl noch ein paar hundert Jahre Regeln und Konsequenzen für das Brechen dieser Regeln - vor allem wohl, um das Leben zu vereinfachen. Aber wir können loslassen von moralischen Urteilen und auch vom "bestrafen Wollen" / "rächen Wollen". Dadurch können wir auch in dem "Täter" leichter denselben Menschen erkennen, wie wir - einen Menschen, der einfach nur versucht glücklich zu sein - und wir können ihm dadurch leichter und erfolgreicher helfen, Wege zu finden, die dem Leben besser dienen...

Die Auswirkungen von "positiven"und sonstigen Urteilen

Wer Paul Watzlawicks "Anleitung zum Unglück­lichsein" kennt, der weiß, wenn man unglück­lich sein will, soll man sich unter ande­rem mög­lichst oft mit anderen vergleichen und immer versuchen, der "Beste" zu sein, oder "recht zu haben". Hier spielen positive Wert­urteile eine große Rolle und die Auswir­kungen kann man besonders deutlich im Sport sehen. 

Im Leistungssport zählt praktisch immer nur der "Erste" oder der "Beste" und jeder muss befürchten nicht der "Erste" / der "Beste" zu sein. Man kann nun lapidar sage: "So ist das halt im Sport.", und wenn man der "Erste" / "Beste" / "Größte" ist, fühlt sich das ja richtig gut an, oder? Sogar die Zuschauer, die sich mit dem "Sieger" identifizieren, können sich dann kurzzeitig gut fühlen. Aber selbst wenn man an erster Stelle ist, ist immer auch die latente Angst vorhanden, diesen Platz zu verlieren.  

Viel wichtiger ist aber die Auswirkungen auf diejenigen, die nicht an "erster Stelle" stehen. Besonders deutlich sieht man das im Fußball, bei den sogenann­ten "Hooligans". Wenn die "eigene Mann­schaft" verliert, löst das Schmerz aus, der zu Leiden wird, welches sich dann (was Leiden immer tut) in Gewalt Luft macht - leider meist in Gewalt gegen andere.  

Und das schädlichste ist wohl das Bei­spiel, dass damit den Menschen in der Gesellschaft allgemein gege­ben wird: Der Druck, "Erster" / "Bester" sein zu müssen, unterstützt das "verurteilende Denk­system" und fördert damit letzt­endlich Leiden.

Die Wissenschaft hat übrigens gezeigt, dass Konkurrenz­denken (das ja auch durch diese Beispiele gefödert wird) selbst im Berufs­leben schädlich ist - vor allem, weil es Angst schürt und damit tendenziell die Schutzmecha­nismen aller Beteiligten aktiviert. Die Folge ist, dass die Beteiligten mehr damit beschäftigt sind, sich voreinander zu schützen, als produktiv tätig zu sein, ganz zu schweigen von der Erschwernis der Zusammenarbeit...  

Ein weiteres großes Feld des Leidens ist "Schönheit". Wie viel Leid vermeintliche äußere Schönheit und der Druck, "Schön sein zu müssen" besonders bei Mädchen auslösen kann, hab ich selbst bei meinen beiden Töchtern erfahren. Sogar bei den Menschen, die als schön gelten, löst dieses Urteil viel Leid aus, was vielleicht am deutlichsten das Leben und Leiden Marilyn Monroes zeigt. Auch "schöne" Menschen möchten doch um ihrer selbst Willen geliebt werden, und nicht weil sie zufällig einem Schönheits­ideal entsprechen bzw. von anderen als "schön" beurteilt werden...  

  Tatsächlich ist das Schönheitsideal an sich sehr relativ - Zum einen wandelt es im Laufe der Zeit (z.B. hat sich das Schönheitsideal für Frauen in den letzten Jahrzehnten in Richtung "Mager­sucht" entwickelt). Zum anderen ist es allgemein auch von Mensch zu Mensch sehr ver­schieden, was jeweils als "schön" emp­funden wird. Und es kann sich sogar je nach Situation subjektiv verändern. Ich hab mich in den letzten Jahren selbst immer wieder dabei beob­achtet, wie ich z.B. einen Menschen einmal als "schön" empfunden hab und mich ein anderes Mal dessen Aussehen eher abgestoßen hat. Das hat mir deutlich gezeigt, dass meine Reaktion auf diesen Menschen, mit mir und nicht mit ihm zu tun hatte.

Alleine das hat mich gelehrt, nicht mehr zu sagen: "Du bist schön", sondern das was tatsächlich in dem Moment der Fall ist. Z.B. vielleicht: "Du gefällst mir.", oder verletzlicher: "Ich genieße es gerade, Dich anzuschauen.", oder noch verletzlicher: "Wenn ich Dich anschaue, dann wird mir ganz warm ums Herz."...  

Tatsächlich habe ich schon oft bei Menschen, von dessen Aussehen ich mich anfangs eher abgestoßen gefühlt habe, eine Schönheit ent­deckt, die mich überrascht und sehr berührt hat. Mir hat es dabei meistens geholfen, wenn diese aus ihrem Herzen sprachen, sei es in Trauer oder in der Freude.  

  Ich glaube inzwischen, dass jeder Men­sch diese Schönheit in sich trägt und dass man sie auch sehen kann, wenn man sich nicht von der "Hülle" (dem Körper, den Worten, ...) ablenken lässt und diesem da­durch eine ungesunde Bedeutung gibt. Und ich persönlich möchte lernen, diese tiefere Schönheit mehr und mehr in jedem Menschen zu sehen - nicht zuletzt deshalb, weil ich mich dadurch selbst einfach wohler fühle...  

Woran kann ich erkennen, dass ich mich im
"verurteilenden Denksystem" verfangen habe?

Um sich bewusst für eines der beiden Paradigmen entscheiden zu können, ist es wichtig die Symptome zu kennen, die sich in dem jeweiligen Denksystem / in der jeweiligen Art der Weltanschauung einstellen.  

Wenn ich mich im "verurteilenden Para­digma" verfangen habe, kann ich das auf drei Ebenen feststellen:

- Auf der Ebene des Verstandes:
Ich merke, dass ich "verurteilende Gedanken" habe.

- Auf der Ebene der Gefühle:
Ich merke, dass ich unangenehme Gefühle habe (Angst, Ärger, Irritation, Depression, ...).

- Auf der Körperebene:
Ich spüre in meinem Körper "Unangenehmes" (Anspannung, Taubheit, Brennen, Druck, o.ä.).

Allgemein verfange ich mich vor allem in Situatio­nen, die für mich herausfordernd sind, in diesem "verurteilenden Paradigma", d.h. in Situationen, die für mich mit schmerzhaften / traumatischen früheren Erfahrungen ver­bun­den sind. Ich spüre dann oft einen inneren Druck. Allgemein bin ich dann "auf der Hut" oder irgend­wie "auf der Suche"; mein Verstand sucht irgendwas, das ich tun kann - Ich möchte dann unbewusst vor allem dem Unangenehmen in mir und dem Gefühl der Hilflosigkeit ausweichen... 

  Wenn ich im "Paradigma der Gewaltfrei­heit" bin, spüre ich im Gegensatz dazu eine Lebensfreude in mir und bin ent­spannt und wach. Solche Momente hatte ich früher schon immer wieder, wenn ich z.B. verliebt war, wenn ich mit meinen Sinnen etwas genossen hatte (Schönheit, Geschmack, Be­rührung, ...), oder wenn es mir aus anderen Gründen gut ging. Früher wusste ich nicht wirklich warum es mir so gut geht. Ich hab mir gesagt, es sei wegen der Umstände. Heute sehe ich: In solchen Momenten bin ich im "Paradigma der Gewaltfreiheit" und ich habe keine ver­urteilenden Gedanken, bzw. ich glaube nicht an sie, sondern ich nehme sie liebevoll an, wenn sie da sind - und ich höre / spüre sie und entwickele liebevolles, mitfühlendes Verständnis für sie...

Wie komme ich vom "verurteilenden Paradigma"
in das "Paradigma der Gewaltfreiheit"?

Der Weg raus aus dem "verurteilendem Paradigma" zurück in das "Paradigma der Gewaltfreiheit" kann nur mit Liebe und Mitgefühl gelingen. Wenn ich mich dafür verurteile, dass ich mich im "verurteilenden Denksystem" verfangen hab / dass ich verur­teilende Gedanken habe, verstricke ich mich auf eine verstecktere Weise nur noch mehr in der "verurteilenden Denkweise".

Der erste Schritt zurück zum "Paradigma der Gewaltfreiheit" ist, zu erkennen, dass ich mich im "verurteilenden Denk­system" verfan­gen habe. Die oben beschriebenen Symp­tome auf den drei Ebenen: Körper, Gefühle und Verstand, helfen mir bei diesem Erkennen.

Der zweite Schritt ist, dass ich mich für das "Paradigma der Gewalt­freiheit" entscheide. Diese Entscheidung ist geboren aus der Erkenntnis, dass es das Beste für mein Wohlbefinden ist (hier musste erst mein Vers­tand durch Einsicht und Erfahrung überzeugt werden). 

Und der dritte Schritt schließlich ist, dass ich Liebe und Mitgefühl für das Unangenehme in mir entwickle. Bei Auslösern mit geringer Bedeutung für mich, genügt es das "suchende Denken" einfach liebevoll anzuerkennen und dann loszu­lassen. Bei starken Auslösern brauche ich Unter­stützung in Form von liebevoller Beglei­tung durch andere, damit ich Liebe und Mit­gefühl für das Unangenehme in mir (das im Grunde ein verletzter Teil von mir selbst  ist) entwickeln kann.

Ohne dem Unangeneh­men in mir zu glauben oder seinem Impuls zu folgen, gebe ich ihm zuerst Raum und atmen hinein und empfange und halte es mitfühlend. Auf diese Weise "höre" / "spüren" ich es wirklich... Wenn ich es schaffe das Unangenehme in mir liebe­voll anzu­neh­men, ohne es weg haben zu wollen, kann ich schließlich meistens die da­runter liegende Sehn­sucht spüren und so mitfühlendes Verständnis für das Unangenehme in mir entwickeln... Und wenn ich die Trauer und das Mitgefühl, dass in dieser Sehnsucht liegt, wirklich spüre, wird das Unangenehme schließlich weicher und kann "im Sonnenstrahl der Liebe" schmelzen...

Auch dieser letzte Schritt gelingt übri­gens immer schneller und leichter, je besser ich meine "wunden Punkte" und die darunter liegende Sehnsucht kennen lerne. Für diesen wohl nie endenden Prozess des Kennenlernens war und ist für mich die Transforma­tionspraxis von Robert Gonzales, sowie die Übung deren einzelner Elemente, die ich in meinem Artikel "Sieben Elemente der Selbstheilung - Fähigkeiten für den Alltag" (Blog vom 25. Mai 2011) beschrieben habe, unverzichtbar.

Meine Entwicklung zum "Denksystem der Gewaltfreiheit" hin

Mein persönlicher Weg ins "Paradigma der Gewaltfreiheit" hat vor über 6 Jahren mit der Teilnahme an einer Einführung in die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) Marshall Rosenbergs begonnen. Ich habe dort und in den vielen Seminaren danach gelernt, verurteilendes Denken und dessen Auswirkungen zu erkennen. Ich habe gelernt, verurteilendes Denken in das zu übersetzen worum es mir jeweils wirklich geht.  

Gleichzeitig habe ich erst in den letzten Wochen erkannt, dass ich doch auch all die Jahre getrieben war durch ein "mich schuldig Fühlen" - und dieses getrieben Sein hat mich immer wieder Dinge tun lassen, ohne dass ich dabei die Bedürf­nisse anderer überhaupt sehen konnte.

Wenn man Gewalt als jedes Tun oder Unterlassen definiert, das die Bedürfnisse anderer nicht achtet, hat mich dieses getrieben Sein also Gewalt ausüben lassen - und das ob­wohl meine, mir bewusste Absicht auch in solchen Situationen meistens die war, zum Wohlergehen anderer beizutragen.  

Dieses getrieben Sein hat sich erst grundsätzlich lösen können, als ich von der Illusion der "Schuld" und "Sünde" los­lassen konnte und dadurch den anderen und vor allem mir selbst verzeihen konnte... Wie bereits erwähnt hat sich so auch der Glaubenssatz aus meiner Kindheit: "Ich mach immer alles falsch", lösen können. Dadurch konnte ich erleben wie es ist, in mit "offener, nicht-verurteilender, mitfüh­lender Haltung" zu sein, oder anders aus­gedrückt: Im "Paradigma der Gewalt­freiheit" zu ruhen, oder auch: "Entspannt und mit Tatkraft und Lebensfreude" zu leben...  

Inzwischen habe ich festgestellt, dass dies auch ange­sichts der Gewalt auf der Welt, im Grunde ein andau­erndes Üben ist, immer wieder, durch das Entwickeln von mitfühlendem Verständnis für alle jeweils Beteiligten, zu verzeihen. Ich fin­de mich immer wieder im "verurtei­lenden Denksystem" wieder und leide (auch noch während des Retreats ist es mir so ergan­gen) - und ich kann mich immer wieder darin üben, mit­fühlend mit mir und anderen zu sein und mich dadurch für die andere Denk­weise / die andere Weltanschauung / für Entspannung, Tatkraft und Lebensfreude zu entscheiden.

  Dieses Üben ist eine dauernde Übung im Vergeben, mir selbst und / oder anderen gegenüber, für die ich auch immer wieder Unterstützung durch anderen brauche. Und dieses Üben hat mich schon sehr vom Leiden befreit, und ich habe öfters und mehr Tatkraft, weil ich aus Liebe und Freude heraus für etwas handle und nicht aus Angst, Anspannung und Ärger und gegen etwas - und ich kann somit besser für mich und andere da sein...

Ein effektiver Weg auch für Dich?

Ich glaube nicht, dass es so wie bei mir 6 Jahre dauern muss, dieses Bewusstsein zu entwickeln. Allerdings spielt es im Grunde keine Rolle wie lange es dauert und es ist sogar ein Hindernis auf dem Weg, wenn man sich im Hinblick auf die Zeit unter Druck setzt. Außerdem beginnt schon mit dem ersten Schritt (bei mir mein erstes GFK-Seminar) eine vielleicht manchmal langsame oder auch zeitweise stockende, aber doch stetige Entwicklung hin zum Besseren.

Gleichzeitig glaube ich schon, dass es so etwas wie "Best Practices" / "Beste Verfahren" / "Erfolgsmodelle" auch für die Persönlichkeits­entwicklung und für die Entwicklung hin in das "Denksystem der Gewaltfreiheit" gibt.

Ich persönlich habe in den letzten 11 Jahren, in denen ich mich intensiv mit Persönlichkeits­entwicklung beschäftigt habe, keine effek­tivere Unterstützung, für die eigene Entwicklung hin zur Gewaltfreiheit, entdeckt, als das Modell der GFK, in Verbindung mit einer Art der Schattenarbeit / Psychohygiene, wie z.B. die Transformationspraxis von Robert Gonzales (vgl. mein Blog vom 25. Mai 2011).

  Und ich bin davon überzeugt, dass das Modell der GFK nicht nur Menschen ohne (formale) Religion unterstützt, sondern sich auch sehr gut mit allen existierenden Religionen vereinbaren lässt. Ja ich glaube sogar, dass es sehr dabei hilft, den jeweiligen Glauben zu vertiefen und mehr und mehr zu leben... 

Wie Ken Wilber, der schon als "Einstein der Bewusstseinsentwicklung" bezeich­net wurde, zeigt (vgl. myilp.com), ist irgendeine Form von "Schattenarbeit" / "Psychohygiene" auch für jede Meditationspraxis notwendig, weil nur so die eigenen, unbewussten Anteile wieder zu sich genommen und damit integriert werden können, und erst dadurch könnnen die eigenen Projektionen verringert werden.

Zudem scheint mir das Loslassen von dem Glauben an "Schuld" und "Sünde" in all dem, ein äußerst wert­voller "Katalysator" für die Entwick­lung hin zur Gewaltlosigkeit zu sein. Mir hat es jedenfalls zum "Durchbruch" verholfen.

Ich freue mich darauf, die oben beschrie­benen neuen Erkenntnisse und Erfah­rungen in meine Seminare einfließen zu lassen :-)

Angesichts der Gewalt auf der Welt und der Zunahme der Zerstörungskraft von Waffen aller Art, gibt es wohl für das Überleben der Menschheit nichts wichti­geres, als Menschen für die persönliche Entwicklung hin zur Gewaltlosigkeit zu begeistern und ihnen einen gangbaren Weg zu zeigen - und sie schließlich dabei zu unterstützen, diesen Weg zu gehen. Lass uns mit gutem Beispiel vorangehen...

Ich würde mich freuen von Dir eine Rück­meldung zu bekommen, wie es für Dich war, diesen Artikel zu lesen. Ich hoffe jedenfalls, er inspiriert Dich.

Bis zu nächsten Mal - lebe bewusst und mitfühlend :-)

Volkmar Richter

www.GFK-Lebensfreude.de

Wie schon angedeutet, lösen die verurtei­len­den Gedanken in Form von "Ich bin ..." oder "Du bist ..." zwar meist am deutlichsten Leiden aus, weil sie direkt gegen den betreffenden Menschen gerichtet sind. Allerdings sind sie nur die Spitze des Eisbergs des "verurteilenden Denksystems". Verurtei­lung­en / Bewer­tungen von Hand­lungen oder Unter­lassungen mögen sich nicht so deutlich auf uns auswirken, aber zum einen können sie leicht unsere un­bewussten Selbstverur­teilungen ansprechen, bzw. lösen diese aus und zum anderen ziehen sie uns in das "verurteilende Denksystem" hinein; sie "gewöhnen" uns sozusagen an Verur­tei­lungen und stützen den Glauben an ihren vermeintlichen Wert.

Du kannst die Auswirkungen gut spüren, die verurteilenden Ge­danken gegenüber anderen auf Dich haben. Buddha soll gesagt haben: "Groll mit sich herumtragen ist wie das Greifen nach einem glühenden Stück Kohle in der Absicht, es nach jemandem zu werfen. Man verbrennt sich nur selbst dabei.", und ich glaube, Du kannst auch diesen Effekt mit folgendem Experiment gut spüren:
Erinnere Dich an eine Situation in der Du Dich über jemanden geärgert hast - und spüre in Deinen Körper wie es sich jetzt im Moment anfühlt...
Obwohl wir uns oft zumindest nicht gleich dessen bewusst sind, ist Ärger immer mit einem Urteil darüber ver­bunden, dass etwas "falsch" ist und anders sein "sollte" - Ärger kann also als eine Form der Angst, vor dem was ist / des Widerstands, gegen das was ist, ver­standen werden und ist nur innerhalb des "verurteilenden Denksystems" möglich.
Meiner Meinung nach leiden wir aus zwei Gründen unter den Verurteilungen anderer:
1.: Wie das Experiment gezeigt hat, leiden wir zuallererst selbst darunter (wenn auch oft unbemerkt), wenn wir andere verurteilen. Abgesehen von der kurz­fristigen Erleichterung, die wir erleben können, wenn wir es schaffen, die "Schuld" anderen zu geben - der Grund hierfür liegt wohl vor allem darin, dass sich dann unser eigenes (unbewusstes) Schuldgefühl etwas entspannt -, halten uns auch die Verurteilungen anderer davon ab, Vergangenes loszulassen / Frieden mit Vergangenem zu schließen - wir ärgern uns (und wir tun das tatsächlich ganz alleine ;-).
2.: Zudem muss ich immer auch befürchten, selbst verurteilt zu werden, wenn ich andere verurteile. Ich lebe zwangsläufig unter dieser latenten Angst, vor Verurteilung und muss mich davor schützen (z.B. dadurch, dass ich immer wieder beweise, dass andere "schlechter" sind / dass ich "besser" bin). Und wenn andere mich tatsächlich verurteilen, wird es unangenehm für mich: die latent vorhandene Angst wird wach.
Selbst die Bibel spricht diesen Aspekt an: "Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet."...



Diese zwei Zusammenhänge führen zu dem kleinen und großen Leiden, das in dem "verurteilenden Denksystem" unausweichlich ist und das letztendlich für uns selbst das Leben im wahrsten Sinne des Wortes zur Hölle machen kann... Das ist es wohl auch was Gandhi meinte, als er sagte, er selbst sei sein größter Feind... In "Ein Kurs in Wundern" steht: "Es gibt keine Hölle. Die Hölle ist nur das, was das Ego [das verurteilende Denken] aus der Gegenwart gemacht hat."...
Ich möchte noch anmerken, dass selbst "posi­tive" Urteile wie Kompli­mente oder Lob können uns, im Gegen­satz zu wertfreiem Ausdruck von Aner­kennung und Dankbarkeit, auf unmerk­liche Weise in dem "ver­urteilende Denksystem" verstrickt halten - ich werde weiter unten nochmals näher darauf eingehen...

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Kommentare: 3
  • #1

    Corinna (Montag, 31 Oktober 2011 08:51)

    Lieber Volkmar,
    Schön, dass ich "zufällig" (wie auch immer gelenkt ;-) auf Deine Seite und auf diesen Bericht kam. Deine Worte zu lesen war für mich wie ein tieferes Eintauchen in die GfK. Dinge, die mir schon irgendwie bewußt waren, sind jetzt auch körperlich spürbar für mich geworden.
    Auch die Unterscheidung von Mitgefühl zum Mitleid ist für mich jetzt nach dem Lesen viel klarer. Geholfen haben mir Deine Worte, dass auch beim Mitleiden ein
    Urteil zugrunde liegt. Und das größte Geschenk heute war während des Lesens auf einen Glaubenssatz meiner Selbstverurteilung zu kommen. Das macht mich hoffnungsvoll und dankbar.
    Leider kenne ich die Transformations... von Gonzales nicht, werde aber sicher Deinen Blog dazu nachlesen. Eine meiner Erfahrungen würde ich noch gerne mit Dir teilen. Bei der Übersetzung meiner Wolfsohren/Schuldgefühle hilft mir - nachdem ich mir mein Urteil bzw mein "sollte" bewußt gemacht habe - das Gegenteil zu formulieren. Sprachlich also zu übersetzten und dadurch an meine unerfüllten Bedürfnisse zu kommen. Dann kann bei mir die
    Trauer einsetzten. Zum Beispiel: Weil er so unzuverlässig ist, kann ich meinen Tag nicht planen. Ich übersetzte: unzuverlässig in Zuverlässigkeit und nicht planen in Selbstbestimmung und Klarheit.
    Vielen Dank für diesen Blog und einen schönen Herbsttag

  • #2

    Reinhard Bruck (Sonntag, 08 Januar 2012 13:27)

    Hallo Volkmar,

    du schreibst in deinem Artikel Verurteilendes Denken - die Ursache von... an einer Stelle: "Selbst die Bibel spricht diesen Aspekt an: "Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet."..."

    Dabei stolpere ich über das Wörtchen "selbst". Könnte es sein, dass du damit ausdrücktest, dass du der Bibel solche Weisheiten sonst nicht bzw. weniger "zutrautest"?

    Wenn ja, nimm meinen Kommentar als kleinen Hinweis auf - vielleicht versteckte/subtile - Urteile (im kulturell-kollektiven Denken).

    Beschwingte Grüße
    Reinhard

  • #3

    Torsten (Donnerstag, 18 Juni 2015 17:03)

    Ich glauben das veruteilende Denken ist nicht für alles Leiden verantwortlich.
    Wenn man z.B. Angst vor Krankheit hat, verurteilt man niemanden und leidet trotzdem.